Lebensgeschichten

Von der Völkerschau im Zirkus bis zum Bundesnachrichtendienst – Das bewegte Leben des Theodor Wonja Michael (1925-2019).

Theodor Wonja Michael wurde im Januar 1925 in Berlin geboren. Er war das jüngste von vier Kindern des kamerunischen Kolonialmigranten Theophilus Wonja Michael und dessen deutscher Ehefrau Martha, die aus Posen stammte. Als Theodor ein Jahr alt war, starb seine Mutter an einer schweren Krankheit. Aus wirtschaftlicher Not schloss sich sein Vater mitsamt seinen Kindern der „Völkerschau“ des Marokkaners Mohamed ben Ahmed an, die vornehmlich von deutschen Wanderzirkussen wie Holzmüller oder Jakob Busch engagiert wurde. Von Kindesbeinen an mussten Theodor und seine drei Geschwister Christiane, James und Juliana mit ihrem Vater in die Rollen „kulturloser Exoten“ schlüpfen, wie sie der Fantasie der damaligen Europäer entsprachen. In ähnlicher Funktion traten sie auch immer wieder als Komparsen in Spielfilmen auf. In seinen Memoiren gibt Theodor Michael einen Eindruck von der entwürdigenden Behandlung durch die Besucher der Völkerschauen: „Wo ich ging und stand, wurde ich begafft, wildfremde Leute fuhren mir mit den Fingern durch die Haare, rochen an mir, ob ich echt sei, sprachen in gebrochenem Deutsch und in Zeichensprache mit mir, in der Annahme, ich würde sie nicht verstehen.“ Andererseits war es für ihn spannend, während der Saison von Ort zu Ort zu reisen. Gerade dies nahm jedoch das Jugendamt zum Anlass, die Vormundschaft des Vaters aufzuheben und die Kinder in Pflegefamilien unterzubringen. Dass Theodor und Juliana Michael über Umwege dann ausgerechnet bei den ben Ahmeds landeten, während sich die beiden älteren Geschwister wandernden Artistengruppen anschlossen, führte die Begründung der Behörde ad absurdum. Theodor und Juliana hatten fortan nicht nur weiter aufzutreten, sondern mussten auch im Haushalt von „Onkel“ Mohameds Familie schuften.

Mohameds Völkerschau
Dritter von rechts stehend: der Vater Theophilus Michael, in der Mitte sitzend mit Turban:Mohamedben Ahmed, auf seinem Schoß Theodor Michael im Alter von drei Jahren, linkssitzend Schwester Christiane, rechts Schwester Juliana, etwa 1928 (Foto: Privatarchiv Theodor Michael, Köln, DTV).

Während die älteren Geschwister Christiane und James nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahre 1933 mit ihren Artistengruppen nach Frankreich emigrierten, blieben Theodor und Juliana bei Ben Ahmed, der als Staatsangehöriger von Spanisch-Marokko keine Verfolgung zu befürchten hatte. Mit dem Tod des Vaters 1934 verloren die beiden Geschwister ihren letzten familiären Rückhalt. Da die Nachfrage nach Völkerschauen in Deutschland sank, folgten bis zum Beginn des Krieges mehrere Sommergastspiele im Ausland, darunter in Belgien, Polen, Skandinavien und Rumänien. Auf der Schwedentournee von 1937 gab ben Ahmed seine Völkerschautruppe aus geschäftstaktischen Gründen als „Äthiopier“ aus, weil die schwedischen Sympathien nach dem Abessinien-Krieg eindeutig bei den unterdrückten Afrikanern lagen. Angebote schwedischer Familien, Theodor und Juliana bei sich aufzunehmen, um sie vor der NS-Rassenpolitik zu schützen, schlug ben Ahmed aus, wohl nicht zuletzt aus Furcht vor der Reaktion der deutschen Behörden. Als Juliana im Herbst 1937 mit Genehmigung des Jugendamtes zu ihrer älteren Schwester nach Frankreich ausreisen konnte, blieb Theodor allein zurück.

Während der Gastspielreisen verlief der Schulbesuch Theodor Michaels wie bei allen Zirkuskindern unregelmäßig. Dennoch war er ein guter Schüler und in seiner Berliner Klasse akzeptiert. Erste Anfeindungen gab es erst, als er aufgrund seiner Hautfarbe beim „Deutschen Jungvolk“ der Hitlerjugend abgewiesen wurde. Aufgrund seiner schulischen Leistungen wurde Theodor Michael auf das Kant-Gymnasium berufen, kurz darauf jedoch aufgrund „neuer Bestimmungen“ wieder ausgeschlossen und in die Volksschule versetzt. Die ständige Mehrfachbelastung und die psychischen Kränkungen hinterließen bei Theodor Michael auch physische Spuren. Er blieb im Wachstum zurück, litt unter andauernden Kopfschmerzen und begann vermehrt zu stottern. Im Alter von gerademal vierzehn Jahren litt er an Magengeschwüren, was die Ärzte in Erstaunen versetzte.

Nach Abschluss der Volksschule bemühte sich Theodor Michael um eine Lehrstelle als Handwerker, wurde jedoch als „nicht-arischer“ Bewerber überall abgelehnt. Im Frühjahr 1940 fand er dann einen Job als Page im renommierten Hotel „Excelsior“. Nach einigen Wochen drängte ihn die Hotelleitung, einen Mitgliedsantrag bei der Deutschen Arbeitsfront zu stellen. Dieser Antrag führte jedoch zu einer Vorladung beim Reichssicherheitshauptamt. Obwohl das Gespräch in der Prinz-Albrecht-Straße in freundlicher Atmosphäre und damit glimpflich verlief, führte es zu seiner baldigen Entlassung aus dem Pagendienst, da Theodor Michael aufgrund seines „negroiden Einschlags“ kein Mitglied der Deutschen Arbeitsfront werden könne. Mehr Glück hatte Theodor Michael wenig später im Hotel „Alhambra“, das die offiziellen Einstellungsvorgaben etwas lockerer handhabte. Von Zeit zu Zeit durfte der neue Page sogar den Portier vertreten.

Eine willkommene Abwechslung vom bedrückenden Alltag waren die gelegentlichen Einsätze als Filmkomparse. Im Bundesarchiv findet sich eine Karteikarte der Reichskulturkammer, auf welcher vermerkt ist, dass Theodor Michael für seine Komparsenrolle als „Negerjunge“ in dem 1941 in Italien gedrehten Spielfilm „Vom Schicksal verweht“ (Regie: Nunzio Malasomma) eine Gesamtgage von 500 Reichsmark erhielt. Dieses Geld dürfte allerdings Theodors Vormund ben Ahmed einbehalten haben, dessen eigene Gage 560 Reichsmark betrug. Der Höhepunkte seiner ‚Filmkarriere‘ war für Theodor Michael die Komparsenrolle als „Leibpalmwedler des Sultans“ in der UFA-Großproduktion „Münchhausen“ (Regie: Josef von Báky), der im März 1943 Premiere feierte.

Theodors Lage verschlechterte sich dramatisch, als er 1943 aufgrund seiner erreichten Volljährigkeit gemustert wurde. Die Wehrmacht lehnte ihn als „wehrunwürdig“ ab, wonach ihn das Arbeitsamt als „kriegsdienstverpflichtet“ an die J. Gast KG in Berlin-Lichtenberg vermittelte und in das „Fremdarbeiterlager Adlergestell“ in Berlin-Adlershof einweisen ließ. Täglich musste er sich mit anderen Zwangsarbeitern nach Lichtenberg begeben und bei vollkommen unzureichender Ernährung bis zu zwölf Stunden im Akkord Eisenteile zusammenschrauben. Später wurde er als Fahrer eines Elektrokarrens eingeteilt, was eine gewisse Erleichterung bedeutete. Im April 1945 erfolgte die ersehnte Befreiung durch die Rote Armee.

Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit, Berlin-Schöneweide
(Foto: Martin Holler)

Theodor Michael setzte sich bald darauf in die amerikanische Zone nach Hessen ab, wo er durch den Kontakt mit afroamerikanischen Soldaten derart gut Englisch lernte, dass er eine Zeit lang für die amerikanische Armee als Übersetzer arbeiten konnte. Seine Pläne, nach Amerika zu emigrieren, ließ er fallen, als er die amerikanische „Rassentrennung“ am eigenen Leib zu spüren bekam: Während ihn einige weiße US-Soldaten aufgrund seiner Hautfarbe herablassend behandelten, wurde ihm auf Tanzabenden und anderen Veranstaltungen der Zutritt verwehrt. 1947 heiratete Theodor Michael die aus Schlesien stammende Krankenschwester Elfriede Franke, mit der er eine Familie gründete. Es fiel ihm jedoch schwer, eine ausreichend bezahlte Arbeit zu finden, um den Lebensunterhalt zu sichern. Da er keinerlei Zeugnisse vorweisen konnte, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich mit Gelegenheitsarbeiten durchzuschlagen. Hierzu gehörten kleinere Theater- und Fernsehrollen, Auftritte als Hörspielsprecher im Rundfunk, aber auch Metallsammeln. 1956 erkrankte Theodor Michael an schwerer Lungentuberkulose, die erst nach drei Jahren vollständig ausgeheilt war. Im Anschluss daran wendete sich das Schicksal endlich zum Besseren. Seine Mitgliedschaft in der „Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger“ ermöglichte es ihm, ein zweijähriges Studium an der Hamburger Akademie für Gemeinwirtschaft zu absolvieren und anschließend ein Jahr als Gasthörer in Paris zu verbringen, wo er sich in die französische Fachliteratur zu Afrika einarbeiten konnte. Nach seiner Rückkehr aus Frankreich arbeitete er als Afrika-Spezialist für verschiedene Wirtschaftszeitschriften und brachte es schließlich zum verantwortlichen Redakteur des neugegründeten Kölner „Afrika-Bulletins“. Ende 1971 folgte Theodor Michael einem Angebot des Bundesnachrichtendienstes und diente als Afrika-Fachmann im Range eines Regierungsrates. 1987 trat er in den Ruhestand und kehrte auf die Bühne zurück, dieses Mal allerdings nicht aus wirtschaftlichem Druck, sondern aus reiner Liebe zum Theater. Überdies schloss er sich der „Initiative Schwarze Deutsche (ISD)“ an, da ihn der Alltagsrassismus in Deutschland trotz seiner Erfolge ein Leben lang begleitete. Rückblickend beklagte er, ihm sei das „Baströckchen aus der Völkerschau immer nachgetragen“ worden. Nachdenklich fragte er sich bis zuletzt: „Wann endlich wird man meine Enkel in Deutschland nach ihrem Charakter beurteilen und nicht nach ihrer Hautfarbe?“ 2018 wurde Theodor Michael für sein gesellschaftliches Engagement als Zeitzeuge mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Ein Jahr später, im Oktober 2019, starb er in Köln.

Als Chauffeur Hoke in „Miss Daisy und ihr Chauffeur“ in Freiburg, ca. 1997 (Foto: Privatarchiv Theodor Michael, Köln; DTV).

Autor: Martin Holler

Quellen:

Interview mit Theodor Wonja Michael, Köln, 7. Dezember 2018.

Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, R 9361-V/123765 und R 9361-V/134277; Lewerenz, Susann: Geteilte Welten. Exotisierte Unterhaltung und Artist*innen of Color in Deutschland 1920-1960. Köln 2017; Michael, Theodor: Deutsch sein und schwarz dazu. Erinnerungen eines Afro-Deutschen. München 2013; Reed-Anderson, Paulette: Rewriting the Footnotes. Berlin und die afrikanische Diaspora – Berlin and the African Diaspora. Berlin 2000.

Featured Image (oben): Autogrammkarte, Privatarchiv Theodor Michael, Köln; DTV