Lebensgeschichten

Alma und Alberto Piaia – ein Artistenpaar im nationalsozialistisch besetzten Europa

Alma Vizla wird 1915 im lettischen Opekalna geboren. Über ihre Familie liegen kaum gesicherte Angaben vor; bekannt ist lediglich, dass ihr (wahrscheinlich älterer) Bruder Viktor ein erfolgreicher Fußballspieler wird. Diese Information ist bei aller Spärlichkeit nicht unwichtig, macht sie doch hellhörig für die Anfang des 20. Jahrhunderts vielerorts erstarkte Körperbewegungskultur, für die sich offenbar auch die Geschwister Vizla begeistern. Als Fünfjährige beginnt Alma eine Ballettausbildung, die sie u. a. in der Hauptstadt Riga bei Beatrise Vīgnere, einer wichtigen Vertreterin des lettischen Modernismus und ehemaligen Schülerin der legendären Isadora Duncan, betreibt. Bis Anfang der 1930er Jahre ist sie beim Ballett der lettischen Nationaloper tätig. Einige auf das Jahr 1931 zurückgehende Fotografien, die sie barfuß in einer kurzen Tunika zeigen, lassen überdies vermuten, dass sie auch einer Gruppe für Neuen Tanz angehört.

Möglicherweise verdient sich Alma bereits zu diesem Zeitpunkt ein Zubrot als Ballettmädchen beim Zirkus. Um 1933 wendet sie sich der Akrobatik zu. Nach Mitarbeit bei einigen Wanderzirkussen, etwa dem Zirkus Salamandra und dem (vermutlich aus Schweden stammenden) The Ringa King, tritt sie ab spätestens 1938 beim renommierten Zirkus Salamonsky, dass neben den Standorten Odessa und Moskau seit 1888 auch in Riga eine stationäre Spielstätte besitzt, als Kunstreiterin auf. Wenig später gibt sie jedoch das Kunstreiten zugunsten der Luftakrobatik auf.

Im Zirkus Salamonsky lernt Alma, spätestens Ende 1937/Anfang 1938, den Equilibristen und Kraftmenschen Alberto Piaia (geb. 1895) kennen. Die Überlieferung will, dass der Franko-Italiener mit familiären Bindungen nach Luxemburg im Alter von acht Jahren mit einem Wanderzirkus durchbrennt; dort erledigt er anfallende Arbeiten unentgeltlich, um dafür die artistischen Künste erlernen zu können. Ob diese Schilderung der Wirklichkeit entspricht, lässt sich nicht mehr klären; zudem ist ihr veristischer Gehalt weitgehend nebensächlich. Stattdessen ist es aufschlussreich, am Beispiel dieser Biografie festzustellen, dass der langlebige Topos vom „run away and join the circus“, der seit Charles Dickensʼ Roman Hard Times (1854) den Zirkus als Vehikel zur Überwindung des Alltags und der Erschließung neuer Wirkungsbereiche perspektiviert, seine Attraktivität bis weit ins 20. Jahrhundert hinein beibehält. Mit etwa vierzehn Jahren stößt Alberto in Berlin zum altbekannten Zirkus Althoff und debütiert mit einem Balanceakt. Nach dem Ersten Weltkrieg beginnt er eine intensive Tourneetätigkeit durch Italien, Österreich, die Tschechoslowakei und Deutschland, wo er in renommierten Varieté- und Vergnügungshäusern wie dem Deutschen Theater (München), dem Hansa-Theater (Hamburg), dem Apollotheater (Nürnberg) oder dem Leipziger Krystallpalast auftritt. Bekanntheit erlangt er vor allem mit sogenannten iron jaw-Nummern, bei denen er, um nur ein Beispiel zu nennen, seine Partnerin auf einer mehrere Meter hohen Leiter balanciert, die er mit den Zähnen festhält. Wahrscheinlich führt er auch am Zirkus Salamonsky eine derartige Nummer vor.

Almas und Albertos Tätigkeit bleibt bis Anfang 1939 schwer fassbar. Wie man einer im Nationalarchiv Luxemburg aufbewahrten Fremdenpolizeiakte entnehmen kann, trifft Alma nach vorherigen Aufenthalten in Basel, Nizza und Cannes am 6. Januar 1939 im Großherzogtum ein, um ein zweiwöchiges Engagement in dem für künstlerische Darbietungen bekannten Veranstaltungsraum des hauptstädtischen Hotels Alfa anzutreten; anschließend reist sie weiter nach Magdeburg. Im späteren Verlauf des Jahres begeben sich sowohl Alma wie auch Alberto nach Schweden. Dort heiraten sie am 11. November 1939 in Malmö; fortan treten sie gemeinsam unter dem Namen Alma und Alberto Piaia auf. In Skandinavien erleben sie vermutlich auch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.

Eintrag ins Goldene Buch der Piaia-Artisten über Darbietungen in Oslo, erste Hälfte des Jahres 1944. Foto: Marc Siweck. CNL L-403, Bestand Alma Piaia.

Das überlieferte Goldene Buch der beiden Artisten gibt, wenn auch unvollständig, Auskunft über ihre Aktivitäten während des Zeitraums Mai 1940 bis Juni 1946. Demnach treten sie im Laufe des Jahres 1940 wiederholt im Protektorat Böhmen und Mähren auf, etwa in Prag, Brünn und Ostava. Ab 1941 halten sie sich überwiegend in Dänemark (Kopenhagen, Odense, Aalborg,

Fredericia, Kolding, Nyborg, Randers) und Schweden (Stockholm, wo sie unter anderem am bekannten Chinateatern auftreten, Ystad, Trelleborg, Lund, Hälsingborg, Halmstad, Sveg, Kristinehamn, Örebro, Göteborg) sowie ab 1944 in Norwegen (Oslo, Bergen, Trondheim, Haugesund, Arendal, Fredrikstad, Tonsberg, Drammen) auf. Zwischenzeitlich absolvieren sie jedoch, vermehrt Ende 1941/Anfang 1942, auch Auftritte in Deutschland, z. B. in Berlin, Leipzig, Cottbus oder Dresden, darüber hinaus in Prag, Wien und Posen; im Januar 1943 gastieren sie im besetzten Straßburg. Es fällt somit auf, dass sie (mit Ausnahme des neutralen Schweden) die Kriegszeit ausschließlich im (Einfluss-)Bereich des Dritten Reiches verbringen. Über die Haltung der Piaias zum Nationalsozialismus sowie ihre politische Einstellung allgemein liegen derzeit keine Informationen vor. Ein einziger Eintrag ins Goldene Buch, vorgenommen von einem Veranstalter aus Wien im Januar 1942, weist die (später geschwärzte) Formel „Heil Hitler!“ auf; lediglich ein Bild aus ihrer umfangreichen Fotosammlung trägt den Stempel der NS-Organisation Kraft durch Freude. Nach Kriegsende halten sich Alma und Alberto bis Mitte 1946 weiterhin in Skandinavien (hauptsächlich in Dänemark und Schweden) auf. Sie werden diesem Teil Europas in besonderer Weise verbunden blieben – 1968 wird Alma ihre Karriere mit einer ausgedehnten Tournee durch Norwegen beschließen.

Alma Piaia bei einer Vorstellung am Chinateatern, Stockholm, zwischen 1939 und 1946. Fotograf unbekannt. CNL L-403, Bestand Alma Piaia.

Mit dem Ende des Krieges beginnt für Alma die Zeit ihrer größten Erfolge. Sie tritt nun in den weltweit angesehensten Zirkus- und Varietéhäusern auf, etwa beim Circus Krone (München), dem Cirque Medrano und dem Cirque dʼHiver (beide Paris), dem Billy Smartʼs New World Circus (London) oder dem Tower Circus (Blackpool). Zu diesem Zeitpunkt geht sie, auf der Suche nach größerer künstlerischer Freiheit, von der Arbeit am Trapez zu derjenigen am freischwebenden Vertikalseil über. Kenner feiern sie als bedeutendste Luftakrobatin ihrer Generation und Nachfolgerin der 1931 verunglückten, für unerreichbar gehaltenen Lillian Leitzel. Eine wichtige Station ihrer Laufbahn markiert ab 1949 das Engagement beim Ringling Bros. and Barnum & Bailey Circus, dem damals größten Zirkusunternehmen der Welt, mit dem sie und Alberto alle amerikanischen Bundesstaaten bereisen. Während ihres Aufenthaltes in den USA beteiligt sich Alma auch am Dreh des monumentalen Zirkusfilms The Greatest Show on Earth von Cecil B. DeMille (1952), der die Grandeur des amerikanischen Zirkus zu einem Zeitpunkt beschwört, als dieser, mit veränderten sozio-ökonomischen und kulturellen Bedingungen konfrontiert, zunehmend unter Reformdruck gerät. Sie wird insgesamt an fünf Filmproduktionen mitwirken; im Zirkusdrama Trapeze von Carol Reed (1956) doubelt sie keine Geringere als den Weltstar Gina Lollobrigida.

Nach dem Rückzug aus der Manege Ende der 1960er Jahre lassen sich Alma und Alberto dauerhaft in ihrer Wahlheimat Ettelbrück im Zentrum des Großherzogtums Luxemburg nieder. Hier gründen sie die erste und damals einzige Artistenschule des Landes; mit ihren Schülern treten sie bei zahlreichen nationalen, aber auch internationalen Events auf, beispielsweise der zu Weihnachten 1972 ausgestrahlten BBC Childrenʼs Show. Gleichzeitig bereiten sie Schauspieler, Tänzer und Sänger, die als Stars in der Manege an der gleichnamigen, von der Eurovision ausgestrahlten Wohltätigkeitsveranstaltung (1959-2008) teilnehmen, auf ihren Auftritt am Trapez oder Vertikalseil vor. Darüber hinaus ist Alma nach dem Erwerb eines entsprechenden Diploms auch als Sportpädagogin in verschiedenen Luxemburger Gemeinden tätig. Alberto Piaia verstirbt 1984; Alma folgt ihm 2016, im ehrwürdigen Alter von 101 Jahren. Durch eine private Schenkung gelangt der Nachlass der zwei Artisten 2018 in die Obhut des Luxemburger Centre national de littérature.

Autorin: Daniela Lieb

Hauptquellen:

Archives nationales de Luxembourg, ANLux, J-108-0466230, Piaia Albert, Vizla Alma.

Centre national de littérature, CNL L-403, Bestand Alma Piaia.

Featured image (oben): Während eines Auftritts in Wien, vermutlich frühe 1940er Jahre. Foto: Fritz Peyer. CNL L-403, Bestand Alma Piaia.