Lebensgeschichten

Raymond Gurême: Vom Zirkusakrobaten zum Widerstandskämpfer

Raymond Gurême wurde 1925 in der Nähe von Paris als Sohn einer französischen Sinti-Familie (Manouches) geboren. Seine Eltern, wie schon mehrere Generationen der Familie vor ihnen, besaßen einen kleinen Wanderzirkus sowie ein Wanderkino: die Gurêmes zogen damit durch Frankreich, Belgien und die Schweiz, wo ihr Zirkus in ländlichen Gebieten oft die einzige Unterhaltungsquelle war und sie herzlich empfangen wurden. Die ganze Familie arbeitete mit: Raymonds Vater Hubert Leroux, der im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte, war Akrobat, Musiker und Filmvorführer, seine Mutter Mélanie trainierte die neun Kinder der Familie, die alle verschiedene Aufgaben hatten. Raymond zum Beispiel war ebenfalls Akrobat, außerdem Clown und später Pferdedompteur. Er erinnert sich an eine glückliche Kindheit, aber auch an viel Arbeit, wie etwa das Zurückspulen der Filmrollen nach abendlichen Vorführungen.

Viele französische sogenannte “Nomaden”-Familien betrieben damals Wanderzirkusse und tourten durch kleine Dörfer (siehe auch die Lebensgeschichten der Esther-http://www.forgottencosmopolitans.eu/?p=473&lang=de und Sénéca-Familien http://www.forgottencosmopolitans.eu/?p=425&lang=de).

Die Familie Gurême im Jahre 1937, mit freundlicher Genehmigung von Raymond Gurême

Doch in einem ihnen gegenüber zunehmend feindlich eingestellten Umfeld wurde die Lebensweise der “Nomaden” als immer bedrohlicher angesehen. Schon seit 1912 hatten die französischen Behörden die Bewegungen von fahrenden Gruppen kontrolliert, doch am 6. April 1940, nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, wurde das “Herumziehen” ganz verboten.

Internierung und Ereignisse während des Zweiten Weltkriegs

Im Jahre 1940 hielt sich die Familie Leroux-Gurême in dem kleinen Dorf Petit-Couronne in der Nähe von Rouen auf. Anfang Oktober 1940 wurde die Familie von französischen Polizisten verhaftet und im naheliegenden Lager Darnétal, einem der französischen Lager für “Nomaden”, interniert. Zwei Monate später wurden sie, per Zug und zu Fuß, nach Linas-Montlhéry verlegt, einem relativ großen “Nomaden”-Lager an einer stillgelegten Rennstrecke südlich von Paris.

In seinem Buch Interdit aux Nomades, das er 2011 mit der Journalistin Isabelle Ligner veröffentlichte, beschreibt Gurême die unwürdigen und unhygienischen Lebensbedingungen: so gab es kaum Essen und die Häftlinge mussten auf den nackten Holzplanken der ungeheizten Baracken schlafen. Doch Raymond und sein Bruder schafften es ein erstes Mal, aus dem Lager zu fliehen: Die beiden versuchten, sich ihre Geburtsurkunden zu besorgen, um zu beweisen, dass sie Franzosen waren; wurden aber von einem Bürgermeister gemeldet und wieder verhaftet. Einige Zeit später gelang Raymond jedoch erneut die Flucht. Er arbeitete als Knecht auf Bauernhöfen in der Bretagne und konnte sich einige Male nach Linas-Montlhéry durchschlagen, um seiner dort noch immer internierten Familie Lebensmittel zukommen zu lassen. Im April 1942 wurde das Lager Linas geschlossen und alle Häftlinge, einschließlich der Gurême-Familie, wurden erst ins Lager Mulsanne überführt, dann nach Montreuil-Bellay, dem größten Internierungslager für “Nomaden” im besetzten Frankreich.

Im August 1943 wurde Raymond von der französischen Polizei für den Diebstahl deutscher Lebensmittel verhaftet und zur Zwangsarbeit nach Deutschland gebracht, erst ins “Arbeitserziehungslager” Heddernheim, dann in ein Zwangsarbeiterlager in Oberursel. Etwa ein Jahr später, im Juni 1944, gelang es ihm zu flüchten und nach Frankreich zurückzukehren. Dort beschloss er, sich der Widerstandsbewegung anzuschließen. Er trat einer Einheit der Forces françaises de l’intérieur (FFI) bei, die nördlich von Paris Sabotage-Akte ausführte, insbesondere an deutschen Waffen, Verkehrsmitteln und Panzern. Vom 19. bis 25. August

1944 beteiligte er sich aktiv an der Befreiung von Paris. Doch offizielle Anerkennung für seine Rolle als Widerstandskämpfer erhielten weder er noch die meisten anderen Sinti-und-Roma-Mitglieder der Résistance.

Die Entbehrungen der Nachkriegszeit

Nach Kriegsende hatte Raymond Gurême jegliche Spur seiner Familie verloren und wusste nicht, ob sie überhaupt überlebt hatte. Doch 1950 hörte er von einem belgischen “Nomaden”, dass sich seine Eltern und mehrere seiner Geschwister in Belgien aufhielten. Er sprang auf sein Fahrrad und radelte los.

Er erfuhr, dass seine Eltern 1943 aus der Internierung entlassen worden waren. Sein Vater war daraufhin nach Darnétal zurückgekehrt, um seine persönlichen und beruflichen Besitztümer wieder an sich zu nehmen, vom Wohnwagen der Familie bis hin zum Zirkuszelt. Doch dies gelang ihm nicht: alles war “verschwunden”. Sowohl für die Familie Gurême als auch für zahlreiche andere fahrende Zirkus-Betreiber bedeutete dies einen gewaltigen sozialen und finanziellen Verlust, von dem sich die Familie nie wieder ganz erholen würde. Als mehrere Familienmitglieder, darunter seine Eltern, nach dem Krieg mit Raymond nach Frankreich zurückkehrten, mussten sie als landwirtschaftliche Hilfsarbeiter von Hof zu Hof ziehen.

In dieser Zeit lernte Raymond seine spätere Frau Pauline kennen, die aus einer elsässischen Jenische-Familie stammte. Ihre Eltern waren Korbmacher. Sie selbst war mit anderen Familienmitgliedern für drei Monate im Lager Jargeau interniert gewesen. Raymond und Pauline bekamen 15 Kinder und arbeiteten als Altwarenhändler, Markthändler und in der Landwirtschaft. In den 1980-er Jahren konnte Raymond Gurême es sich endlich leisten, sich wieder seiner Leidenschaft für Pferde zuzuwenden: er kaufte mehrere Ponys und betrieb ein Ponykarussell auf Jahrmärkten.

Erst im Jahre 1976 erfuhr Raymond dank einer Interessenvertretung für Sinti und Roma, dass er Anspruch auf den Status eines politischen Häftlings habe. Doch erst 2009 wurde sein Antrag bewilligt.

In den späten 1960er-Jahren gab Raymond Gurême seinen nomadischen Lebensstil weitgehend auf und wurde sesshaft – er ließ sich mit seiner Familie auf einem Stück Land gegenüber des früheren Lagers Linas-Montlhéry nieder. Diese Entscheidung erklärt er hauptsächlich damit, dass er an diesem Ort die Präsenz seiner Eltern spüren könne. Aber er sieht sie auch als eine Art Widerstand: ganz in der Nähe des Ortes, wo er und so viele andere Sinti und Roma interniert waren, steht er heute einer 200-köpfigen Familie vor.

Reden gegen das Vergessen

Wie viele andere während des Krieges Internierte sprach auch Raymond Gurême mehrere Jahrzehnte lang nicht über die Verfolgung, der er selbst und die französischen Sinti und Roma im allgemeinen ausgesetzt war. Doch 2004, bei einer von einer Sinti-und-Roma-Hilfsorganisation organisierten Veranstaltung redete er zum ersten Mal öffentlich über seine Internierung und ist seitdem einer der wichtigsten Zeitzeugen der Verfolgung der Sinti und Roma in den Kriegsjahren. In ganz Frankreich spricht er regelmäßig in Schulen und bei öffentlichen Veranstaltungen. Dieses Engagement trug maßgeblich dazu bei, Staat und Bevölkerung für das Schicksal der französischen “Nomaden” im 20. Jahrhundert zu sensibilisieren.

Raymond Gurême hat sich dieser Verantwortung gestellt und gründete 2010 das Collectif pour la commémoration de l’internement des Tsiganes et Gens du voyage au camp de Linas-Montlhéry (Verband für das Gedenken an die Internierung der “Zigeuner” und “fahrenden Gruppen” im Lager Linas-Montlhéry). An jedem 27. November, Datum der Eröffnung des Lagers von Linas, organisiert das Collectif eine Gedenkwanderung gefolgt von einer Zeremonie und einem gemeinsamen Essen am Wohnort der Gurêmes.

Foto der jährlichen Gedenkwanderung nach Linas-Montlhéry

Nach der Veröffentlichung von Interdit aux Nomades wurde Raymond Gurême 2012 vom französischen Kulturminister zum Chevalier des Arts et Lettres ernannt. Dieser Staatsorden wurde ihm für seinen Beitrag zum Kampf gegen die Diskriminierung der Sinti und Roma verliehen – eine Diskriminierung, die auch heute noch besteht und der auch Raymond und seine Familie weiterhin oft ausgesetzt sind.

Raymond Gurême neben seinem « Verboten für Nomaden »-Schild, das er am Eingang des Familiengrundstücks platziert hat, mit freundlicher Genehmigung von Jean-Baptiste Pellerin.

Raymond in den Worten seines Freundes François Lacroix, Gründer des Kollektivs, das die Erinnerungen an die Internierung im Lager Linas-Montlhéry aufrecht erhält:

“Raymond, 95 Lebensjahre. Sein asketischer Körper trägt die Spuren der erlittenen Gewalttaten und vom Leid der Vergangenheit.

Einer der letzten Zeugen, mit dem unerschütterlichen Willen, das persönliche und familiäre Trauma auszusprechen: die Internierung in Frankreich, durch den französischen Staat, im Lager Linas-Montlhéry in der Nähe von Paris.

Sich erinnern, nicht um der Vergangenheit willen, sondern für heute und morgen. Das Unsagbare ausdrücken, um für die Befreiung im Heute zu kämpfen, um soziale und identitäre Fesseln zu überwinden… Um frei zu sein, muss man manchmal fliehen, oft Ungerechtigkeiten anprangern, den Konflikt nie scheuen und immer, immer widerstehen.

Um frei zu sein, muss man aber auch, und vor allem, tanzen, feiern, lieben und die Schwächsten verteidigen: die sozial Benachteiligten, die Migranten, alle die, denen zum Schlafen nur die Telefonzelle bleibt…

Raymonds Leben, heute. 95 Lebensjahre.”

Autoren: Bruna Lo Biundo und Sandra Nagel, Past/Not Past, https://pastnotpast.com/

Quellen: Ils ont eu la graisse, ils n’auront pas la peau, ein Film von Jean-Baptiste Pellerin über Raymond Gurêmes Leben, 2013 https://vimeo.com/80358019

Radiosendung Une histoire particulière : Résistances Tsiganes. Raymond Gurême, France Culture, 8. September 2018 https://www.franceculture.fr/emissions/une-histoire-particuliere-un-recit-documentaire-en-deux-parties/resistances-tsiganes-12-raymond-gureme

Raymond Gurême mit Isabelle Ligner, Interdit aux Nomades, Calmann-Lévy, 2011

Isabelle Ligner, « Raymond Gurême, l’homme révolté », Blog Mediapart, 21. August 2013 https://blogs.mediapart.fr/infofestival-douarnenezcom/blog/210813/raymond-gureme-lhomme-revolte

Lise Foisneau, Valentin Merlin. “French Nomads’ Resistance (1939-1946)”. Angela Kóczé und Anna Lujza Szász (Hg.), Roma Resistance during the Holocaust and in its Aftermath. Collection of Working Papers, Budapest, Tom Lantos Institute, S. 57-101., 2018. ⟨halshs-01884555⟩

Archives départementales des Yvelines, Signatur 300 W 81