Lebensgeschichten

Die Schweizer Exilflucht der Familie Schaueryans 1943

Die Niederschrift der Fluchtgeschichte der Familie Schaueryans ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit zwischen Nachfahren der Zirkusfamilie und der französischen Historikerin Laurence Prempain.

Bis 1943 lebten Rosa (geb. 1902) und François Jacob Schaueryans (1903) mit ihren Kindern Edwige (geb. 1928) und Roger (geb. 1938) in Grenoble. Über den Beweggrund ihrer Flucht in die Schweiz kursieren in der Geschichte der niederländischen Zirkusfamilie zwei Versionen. So erinnert sich Laura Cassagne an folgende Legende: Rosa hätte in einem Laden ein kleines Kabarett geführt. Zeitgleich wären die Deutschen zwecks Truppenbetreuung auf der Suche nach Künstlern gewesen. Rosa hätte hierfür nicht zur Verfügung stehen wollen und daher beschlossen, in die Schweiz zu fliehen. Gemeinsam mit den Kindern wäre die Grenzüberquerung durch einen Fluss erfolgt. In der Schweiz angekommen, hätten sie schnell ihre zirzensischen Aktivitäten wiederaufnehmen können.

Rosa’s Neffe Maurice Argentier entsinnt sich an eine andere Legende: „Ich habe gehört, dass die Deutschen als sie 1943 nach Grenoble kamen, die Familie Schaueryans verhaften wollten“. Rosa oder ihre Mutter Julie hätten nachdrücklich protestiert und offizielle Papiere vorgelegt, aus denen hervorgegangen wäre, dass sie niederländische Staatsbürger seien. Der Neffe erinnert auch daran, dass Rosas Ehemann wegen seines Vornamens Jacob bei den Deutschen unter den Verdacht geraten sei, ein Jude zu sein. 

Der historische Hintergrund für Argentier’s Erzählung: Grenoble geriet nach der Landung der Alliierten in Nordafrika am 7./ 8. November 1942 unter italienische Kontrolle. Die italienischen Besatzer gewährten den Juden einen gewissen Schutz. Bei diesen galt Grenoble auch als Zufluchtsort. Nach dem Seitenwechsel Italiens im September 1943 wurde Grenoble umgehend von deutschen Truppen besetzt.  

Hinweis auf einen dritten, wohl tatsächlichen Bewegrund für die Flucht der Schaueryans liefert ein schweizerisches Behördendokument, das im Bundessarchiv in Genf lagert. Ein polizeilicher Report meldet den Grenzübertritt und umgehende Verhaftung der vierköpfigen Familie für Mittwochabend, den 14. April 1943. Als Exilmotiv gab der bearbeitende Sachbearbeiter im Protokoll an, dass der Familienvater einem drohenden Arbeitseinsatz in Deutschland zu vermeiden suchte: „Mr. Schaueryans […], quitte la France pour éviter d’aller travailler en Allemagne“.

Gemeinsam war allen Erzählungen, dass sie die nationalsozialistische Herrschaft als Bedrohung thematisieren und diese als Fluchtmotiv identifizieren.  

Kombination verschiedener Sicherheitsstrategien

Einer legalen Einreise in die Schweiz waren hohen Hürden gesetzt. So war es Bestreben der Schweizer Bundespolizei, die Zahl der Flüchtlinge so gering wie möglich zu halten und Aufnahmepolitik, sich auf „besonders wertvolle Personen“ zu konzentrieren sowie sich darüber hinaus auf diejenigen zu beschränken, die eine enge Beziehung zur Schweiz unterhielten und finanzielle Sicherheiten aufweisen konnten. Die Familie Schauerjans erfüllte diese Kriterien nicht. Bis zum 29.12.1942 konnten jedoch Familien mit Kindern unter 16 Jahren und auch Männer zwischen 18 und 50 Jahren, die zum Arbeitseinsatz in Deutschland eingezogen werden sollten, auf Exil in die Schweiz hoffen. Ebenso waren Personen, die verwandtschaftliche Beziehungen in der Eidengenossenschaft nachweisen konnten, von einer legalen Aufnahme begünstigt. Danach verschärften sich die Aufnahmeregularien. Von Interesse für die Familie Schaueryans war indes ein Abkommen zwischen der niederländischen Exilregierung in London und der Schweizer Regierung, dass die Aufnahme niederländischer Flüchtlinge in die Eidgenossenschaft zum Inhalt hatte.   

Nach dem Grenzübergang der Familie am Abend des 14. Aprils 1943 wandte François Jacob im Verhörprotokoll mit den Schweizer Grenzbeamten verschiedene Sicherheitsstrategien an, um die Aufnahmechancen der Familienmitglieder in die Schweiz zu erhöhen. Gegenüber den Grenzbeamten gab der Vater an, dass alle Familienmitglieder niederländische Staatsbürger seien und aus Roermond kämen. Tatsächlich besaßen sie alle vier einen niederländischen Pass, den das Konsulat in Lyon am 29. Juli 1942 ausgestellt hatte.

Mit dem Besitz der niederländischen Staatsangehörigkeit konnte sich die Familie an das niederländisch-schweizerische Flüchtlingsabkommen berufen. Die Familie wollte darüber hinaus noch mit weiteren Strategien für eine erfolgreiche Aufnahme sorgen: Sein Frau Rosa soll im schweizerischen Le Locle geboren sein. Um die Situation der 13-jährigen Tochter Edwige zu erleichtern, erklärte Vater François Jacob diese sei „israelitisch“. Alle anderen Familienmitglieder waren im Verhörprotokoll mit „katholisch“ kenngezeichnet. François Jacob berichtete den Polizisten zudem, dass seine Mutter Marie Schaueryans, ebenso wie seine Brüder und Schwestern, immer noch im schweizerischen Genf leben würden. Zum Abschluss äußerte er die Befürchtung, zum Arbeitseinsatz nach Deutschland geschickt zu werden.

Die Familie kam zunächst in ein Internierungslager, obwohl die Großmutter väterlicherseits anbot, dass diese zu ihr ziehen könnte und sie sich auch bereit erklärte, für deren Unterhalt aufzukommen.  

Am 11. Mai 1943 erteilten die Schweizer Behörden den Kindern die Erlaubnis, zu ihrer Großmutter Marie Schaueryans zu ziehen. Die Eltern kamen getrennt in verschiedene Lager. Schließlich wurde die Familie im Dezember 1943 wegen der Krankheit der Großmutter im Lager Mont Pélerin wieder zusammengeführt. Dort blieb die Familie bis zum 27. Juli 1945.

Wiederaufnahme von Arbeitstätigkeiten  

In zwei kurzen Zeiträumen, vom 27. Juli bis 24. August 1943 und vom 15. Mai bis 24. Juni 1944, arbeitete François Jacob außerhalb des Lagers in der Landwirtschaft. Nach Kriegsende wollte die Familie in Verbindung mit Marie Schauerjans in der Schaustellerbranche arbeiten. Das Schweizer Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit lehnte jedoch einen entsprechenden Antrag mit der Begründung ab, dass der Schaustellermarkt nach dem Krieg in einem sehr schwierigen Zustand sei. Die Möglichkeit, das Lager zu verlassen, ergaben sich durch zeitlich begrenzte Anstellungen für die ganze Familie, u.a. beim Arènes Variétés Nationales im Kanton Freiburg.

Am 24. September 1945 wurde Marie Schaueryans dazu ermächtigt, ihren Sohn mit samt seiner Familie in dem von ihr betriebenen Schaustellerunternehmen befristet anzustellen. Noch immer stand die Familie unter polizeilicher Kontrolle, konnten sich aber an einem privaten Ort in Lausanne in einem Wohnwagen niederlassen. Allerdings war die Familie mit schlechten hygenischen Bedingungen konfrontiert, was wohl bedingte, warum Sohn Roger an Tuberkulose erkrankte. Im April 1948 erhielt die Familie die Nachricht von den Schweizern Behörden, dass sie in der Schweiz bleiben darf.

Autorin: Laurence Prempain

Sources: Spuhler, Gregor (Hrsg.): Independent Commission of Experts Switzerland – Second World War: Switzerland and Refugees in the Nazi Era, Bern 1999; Schweizerisches Bundesarchiv, Niederlassungsangelegenheiten von Ausländern, Aus- und Wegweisungen, Ausweisschriften für Flüchtlinge, Internierungen, 1904-2018. E4264#1985/196#15111, 15112, 15113, 15114, 15115 Schauerjans Francois Jacob, Edwige, Roger, Pierre, Rosa; Staatsarchiv des Kantons Berns, Justiz und Polizei, Handakten Heinrich Rothmund, Akz. 1.010, File 195. Bericht über die Einreisepraxis des Emigrantenbureaus der eidg. Fremdenpolizei, October 12, 1942; Staatsarchiv des Kantons Genf, Justiz und Polizei, Ef 2.2844, Schaueryans; private Sammlungen und persönliche Erinnerungen von Laura Cassagne, Anne-Marie und Maurice Argentier.