Lebensgeschichten

Eine arabisch-deutsche Zirkusfamilie im Dritten Reich

„Er hatte eine spektakuläre Narbe, die seine Handfläche vom Zeigefinger bis zum Handgelenk spaltete“, erinnert sich Bertrand Laurence an seinen Großvater, den Akrobaten Houssein ben Ibrik (1891-1980). „Es war in seinen jungen Jahren in Marokko gewesen: Um das angreifende Schwert eines auf einem Dromedar reitenden Räubers zu stoppen, griff er in die Klinge des Angreifers hinein. Mit seiner anderen Hand schwang er einen Knüppel gegen seinen Widersacher“. Er habe ihn auch nach den „unglaublichen Narben auf seiner Brust gefragt “, erzählt Laurence. „Ein Löwe wollte mich einschüchtern“, antwortete ben Ibrik. „Also stand der Löwe auf, setzte beide Pfoten auf meinen Körper und steckte seine Klauen in meine Brust“. Nach Laurence war es auch kein Löwe, der Houssein ben Ibrik an den Rollstuhl fesselte. Es waren auch nicht die Nationalsozialisten, obwohl er von SS-Offizieren in einem Lager im besetzten Frankreich gefoltert worden war. Wahrscheinlich kam er 1942 in das Lager Beau Désert in Merignac bei Bordeaux. Vielmehr war es der altersbedingte Verschleiß eines Körpers, der an seinen Grenzen angelangt war.

Houssein ben Ibrik wurde 1890 in Marrakesch als Sohn von El Marrakh Benbrik und Henia Bent Hammou, einer Tuareg-Frau aus der Wüste, geboren. Über unklare Wege fand er zu einer arabischen Springergruppe, die schließlich bei dem renommierten deutschen Circus Busch ein Engagement fand. 1934 trat er mit einer Gruppe beim legendären Circus Sarrasani auf. Ben Ibrik war Untermann einer arabischen Pyramide, die aus bis zu zehn Jungen und Männern bestand. Er arbeitete auch mit Großkatzen, nicht nur mit Löwen, sondern auch mit Leoparden und schwarzen Panthern. Laurence hört nicht nur viele Geschichten über die Fähigkeiten seines Großvaters als Tierbändiger, sondern auch: „Ich erinnere mich an einen Koffer voller Negative seiner Zirkuszeit. Diese Bilder waren fantastisch! Als meine Mutter sie sah, geriet sie in Wut und zerbrach sie. Aber ich erinnere mich an einige, darunter ein Portrait meines Großvaters, der einen schwarzen Panther an der Leine hielt. Er trug eine weiten Hose und einen Fez. Den Oberkörper entblößt posierte er in der anderen Hand mit einer tödlichen Keule“.

Ben Ibriks Tochter, Fatima, war im Zirkus geboren und dort auch aufgewachsen. Das führte zu Spekulationen, dass das Mädchen als Vorlage für den Spielfilm „Der dunkle Stern“ aus dem Jahr 1955 gedient haben mag. Regisseur des Film war Hermann Kugelstadt gewesen, der auch am Drehbuch mitgewirkt hatte. Ähnlich wie der drei Jahre zuvor erschienene Film „Toxi“ stand auch in Kugelstands Werk ein Mädchen im Mittelpunkt, dass eine deutsche Mutter und einen farbigen Vater hatte. Im Film „Toxi“ hat die junge Hauptperson kurzzeitig Anschluß an eine Schauspielertruppe, im Film „Der dunkle Stern“ findet die Protagonistin, als Artist und Clown auftretend, ihre Heimat im Zirkusmilieu. Auch Fatima ben Ibrik und ihrer jüngeren Bruder Ali begleitenden ihre Eltern nicht nur auf ihrer Tourné, sondern sie standen bei Sarrasani in den 1930er Jahren auch selbst im Scheinwerferlicht.

In Videoaufnahmen über Ali ben Ibrik, die von seinem Sohn Pascal Benbrik stammen, spricht der Vater kurz über seine Kindheit bei Sarassani. Fatima und Ali wuchsen im Schatten der am 15. September 1935 verabschiedeten Nürnberger (Rassen)Gesetze auf, die zur „Reinhaltung des deutschen Blutes“ Verbindungen mit nichtarischen Personen verboten. Vor diesem Hintergrund war die Existenz von Ali und Fatima nicht nur der Beweis für eine außergewöhnliche Liebe zwischen zwei ungewöhnlichen Menschen, sondern konnte auch als ein Akt des politischen Widerstands aufgefasst werden. Dennoch kann es durchaus möglich gewesen sein, dass beide Kinder während eines Besuchs Hitlers in der Manege auftraten. Nach Aussagen des ehemaligen Hitler-Vertrauten Ernst Hanftstaengl hatte Hitler durchaus Interesse an Zirkusvorstellungen gezeigt.

Gertrude Appel, die Mutter von Fatima und Ali, war einst von zu Hause weggelaufen. Der Zufall führte sie zum Zirkus, wo sie Houssein ben Ibrik kennenlernte. Allen verwandtschaftlichen Berichten zufolge war es Liebe auf den ersten Blick. „Ich glaube, Gertrude ist von zu Hause weggegangen, weil sie einem Mann versprochen wurde, den sie nicht wollte“, sinnierte Pascal Benbrik. Das Schicksal wollte es, dass Houssein ben Ibrik und Gertrude Appel in einer Zeit zusammenfanden, in der die gesellschaftlichen Gegebenheiten in Deutschland radikalen Veränderungen unterworfen waren. Dem Nationalsozialismus stand Gertrude ablehnend gegenüber. Ihrem Ehemann Houssein ben Ibrik blieb sie auch nach seiner Arrestierung durch nationalsozialistische Behörden 1942 treu verbunden.

In den letzten Kriegstagen starb Gertrude bei der Bombardierung von Zittau. Aus Ali und Fatima, damals 7 und 9 Jahre alt, wurden Weisenkinder. Vom Internationalen Roten Kreuz wurden die Kinder, vom Schrecken des Krieges traumatisiert, nach Frankreich gebracht, wo ihr Vater vermutet wurde. Es sollte indes Jahre dauern, bis sie ihn wiederfanden. Er hatte aufgehört in der Manege aufzutreten. Houssein ben Ibrik arbeitete stattdessen als Mechaniker. Er starb 1980.

Anmerkung: Der Sohn von Houssein ben Ibrik und Gertrude Appel, Bertrand Laurence, arbeitet als Gitarrist und Musiklehrer. Der Enkel, Pascal Benbrik, ist ein Dokumentarfilmer, der Filmaufnahmen von seinem Vater Ali gemacht hat als dieser über seine Kindheit im Zirkus sprach. Ben Ibriks Urenkelin, Laurence Benbrink, hat von französischen Zeitzeugen Erinnerungen an die Familie filmisch dokumentiert. Die Autorin des vorliegenden Artikels, Paula Lee, ist eine Historikerin, die in die Familie eingeheiratet hat und zurzeit einen Roman mit dem Titel „The Madwoman’s Son“ fertigstellt. Diese Erzählung basiert auf der Lebensgeschichte von Houssein ben Ibrik und Gertrude Appel.

Autorin: Paula Lee

Ali Benbrik, untitled, unpublished memoir; Susan Nance, How the Arabian Nights Inspired the American Dream, 1790-1935, University of North Carolina Press, 2009; Billy Pape, “What’s Become of Arabian Tumblers?” Billboard (Nov. 29, 1947): 72